Alle reden von Inklusion – nur bleibt sie oft Konzept statt Praxis. Für OroVerde macht Julia Schätzlein Bildungsarbeit. Hier erklärt sie, wie man Kinder begeistert und warum Nazis nicht nachhaltig sind.
„Hochwertige Bildung“ - bis 2030 soll sie weltweit Wirklichkeit sein. Das haben die Vereinten Nationen für ihre Ziele der nachhaltigen Entwicklung beschlossen. Aber bis dahin ist es noch weit.
Für OroVerde hat Bildungsreferentin Julia Schätzlein einen Leitfaden entwickelt. Er richtet sich an Menschen, die nachhaltige Bildung allen zugänglich machen wollen. Entstanden ist er aus dem Inklusions-Projekt „Ich und meine Umwelt“ von OroVerde. Er klärt mit elf Leitsätzen über Chancen und Fallstricke auf und enthält eine Checkliste, mit der sich einfach Bildungsmaterial erstellen lässt.
"Sehr wenig Material und Angebote für Förderschulen oder Inklusionsklassen."
OroVerde: Im Bildungsbereich sprechen alle von BNE. Was bedeutet das eigentlich?
Julia Schätzlein: Die Abkürzung steht für Bildung für nachhaltige Entwicklung. Der Begriff nachhaltig kommt eigentlich aus der Forstwirtschaft. Es geht darum, dass wir Wälder so pflanzen und bewirtschaften, dass sie auf lange Sicht beständig sind und nicht ausgebeutet werden. Mittlerweile ist der Nachhaltigkeitsbegriff mitten in unserem Alltag. Wir kleiden uns nachhaltig, bauen nachhaltig – und wir lehren nachhaltig. Das bedeutet, Schüler*innen fit zu machen, damit sie eine gute Zukunft für alle gestalten können.
OroVerde: Jetzt ist bei OroVerde zum ersten Mal ein BNE-Leitfaden erschienen. Wie ist er entstanden?
Julia Schätzlein: Der Leitfaden BNE für heterogene Lerngruppen basiert auf Literatur zum Thema Inklusion, auf Interviews und meinen Erfahrungen aus der Schule und meiner eigenen Entwicklung von Materialien. Er richtet sich an alle Menschen, die Bildungsmaterialien erstellen.
OroVerde: Einen besonderen Wert legst du auf den Inklusionsbegriff. Warum?
Julia Schätzlein: Wenn du dir die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis 2030 anschaust, kommt der Punkt Hochwertige Bildung schon an vierter Stelle. Ein Unterpunkt ist inklusive Bildung. Es gibt aber im nachhaltigen Bildungsbereich sehr wenig Material und Angebote für Förderschulen oder Inklusionsklassen. Das muss sich ändern.
"Es geht darum andere stark zu machen"
OroVerde: Warum ist inklusive Bildung so wichtig?
Julia Schätzlein: Wir sind alle unterschiedlich. Auch in Klassen und Kursen. Gemeinschaftlich lernen heißt nicht, dass alle das Gleiche lernen müssen. Und auch nicht mit den gleichen Materialien. Das ist Inklusion: Den einzelnen Menschen zu sehen und ihn zu fördern. Wir brauchen Inklusion und BNE für alle.
OroVerde: Richtet es sich deshalb an außerschulische Bildung? Weil das in der Schule nicht funktioniert?
Julia Schätzlein: Steile These (lacht). Nein, weil Lehrkräfte ihre Klasse kennen. Es ist immer leichter, Lehrmaterialien zu erstellen für eine Gruppe, die du kennst. Ich weiß, Kind A hat Schwierigkeiten mit komplexen Themen. Dann kann ich diesem Kind besondere Hilfestellungen geben. Außerhalb der Schule mache ich aber Material für eine Gruppe, die ich nicht kenne. Das ist der Unterschied.
OroVerde: Wie passen Inklusion und BNE zusammen?
Julia Schätzlein: Es geht darum, andere stark zu machen. Damit sie von allein wachsen können. Wie bei den Bäumen vom Anfang unseres Gesprächs. Nur, dass die Bäume hier Menschen sind. Das ist bei Inklusion auch sehr wichtig und ein Grund, warum es diesen Leitfaden gibt. Wir reden von der gesellschaftlichen Transformation. Dabei muss ich alle Personen mitdenken. Alle müssen sich einbringen können. Wenn wir Teilhabe schaffen und Handlungsfähigkeit fördern, bekommen wir mündige Bürger*innen.
"Kontroversen abbilden, ist elementar für Bildung für nachhaltige Entwicklung."
OroVerde: Bei der Heizungsdebatte sehen wir, dass es erst eine große Zustimmung gegeben hat. Und dann die Bereitschaft zur Transformation wieder abnimmt. Wie gehst du denn mit einer Gesellschaft mündiger Bürger*innen um, die am Ende nicht das wollen, was du als Lehrende willst?
Julia Schätzlein: Das muss ich aushalten. Kontroversen abbilden, ist elementar für Bildung für nachhaltige Entwicklung. Sie fördert Kompetenzen, die aber nicht gebunden sind an Inhalte. Ich muss ein Thema finden, das in der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen eine Rolle spielt. So kann ich unterschiedliche Zugänge finden. Und vor allem auch auf Gefühle eingehen, die ja auch beim Heizungsgesetz eine Rolle spielen. Das Gefühl, abgehängt zu werden. Nicht gehört zu werden.
OroVerde: Das muss beim Unterrichten also mitgedacht werden?
Julia Schätzlein: Ich sage nicht: Das ist mein Ziel und das musst du erreichen. Ernährung war immer ein Thema bei den Kindern und Jugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe. Klar kann ich dann sagen, hoher Fleischkonsum verursacht einen hohen CO₂-Ausstoß. Das ist ein Fakt. Trotzdem können sie sich das selbst erarbeiten. Mein Ansatz ist nicht, alle müssen jetzt vegan leben.
"Bildung muss geschützt sein."
OroVerde: Ist es denn überhaupt möglich, außerschulisch Bildung zu machen ohne Agenda?
Julia Schätzlein: Natürlich sind da oft Interessen im Hintergrund. Und es kann auch kritisch werden. Unternehmen und Vereine müssen sich und ihre BNE selbst hinterfragen. Und auch Lehrpersonen müssen checken, ob der Unterricht gefärbt ist. Es gibt auch Nazis, die angebliche „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ machen. Aber das widerspricht dem ganzen Ansatz des Konzepts. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Für mich ist in der BNE freie Meinung zentral. Das findet sich auch in dem Leitfaden: Den Unterricht offen gestalten und die Schüler*innen selbst Handlungen entwickeln lassen.
OroVerde: Klingt kompliziert.
Julia Schätzlein: Wenn ich einen Themenkomplex nehme und überlege: Welche Zugänge gibt es? Welche Unterthemen könnten relevant sein? Und wie können die Schüler*innen selbst eine Meinung bilden? Das ist komplex. Natürlich kann das im Widerspruch stehen zu den Organisationszielen. Aber wir müssen uns in dem Bereich davon lösen. Bildung muss geschützt sein.
OroVerde: Wofür braucht es denn außerschulische Bildung, wenn das alles so kompliziert ist?
Julia Schätzlein: Wir haben eine Expertise, die Lehrkräfte nicht haben können. Einfach, weil ihnen dazu die Zeit fehlt. So tief wie wir können Lehrer*innen kaum in ein einziges Thema eintauchen.
OroVerde: Was ist der wichtigste Punkt, den du aus der praktischen Arbeit für den Leitfaden gelernt hast?
Julia Schätzlein: Ich weiß nicht, was Schüler*innen interessant finden – oder nicht. Zum Beispiel Papier. Nutzen wir alle, ist aber tot langweilig. Das weißt du aber nur, wenn du mit Kindern und Jugendlichen redest. Und das ist die Grundvoraussetzung für einen guten Unterricht.
Wie Sie Bildung für nachhaltige Entwicklung in heterogene Lerngruppen bringen können
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